Freie Liebe und andere Geschichten by Smith Ali
Autor:Smith, Ali [Smith, Ali]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: btb
veröffentlicht: 2017-01-09T14:58:49+00:00
Kaltes Eisen
Was kann ich dir sagen? Das Meer und der Schnee und der Wind.
Erde und dann Gras und dann Schnee, der sich auf das Gras legt. Schnee, der die schmalen Kieswege verstopft, sich dem betenden Engel an den Hals schmiegt und ihm die Steinaugen füllt, stumm die Äste der unbelaubten Bäume überzieht und die Fichten einmummt. Über den Eisengeländern, vor dem großen Tor die Geräusche einer Stadt, die an fausthoch liegendem Schnee würgt, in der Autoreifen und -motoren gedämpft sind. Hoch über der Stadt und den grauen Schneewolken noch mehr nachtdunkler Himmel; weiter oben, im schwarzen All, nur Löchlein in der Dunkelheit, die Bröckchen aus Stein (unsere Sterne, unsere Zukunft), die uns Licht, Wunder, Beständigkeit verheißen. Von unten heute Abend unsichtbar. Darunter, zurück zur Erde und in den Boden hinein – durch ihn hindurch, kalt, hart –, unter Schnee, Gras, Erde liegen dicht an dicht die Toten still in ihren Kisten, halten den Atem an, warten darauf, aufgemacht zu werden wie enttäuschte Geschenke.
Schnee fällt, nichts geschieht.
Ich sag’s dir. Meine Mutter starb, da lief eben der Abspann von EastEnders auf dem tragbaren Farbfernseher, den mein Vater in der Ecke des Zimmers aufgestellt hatte, in dem das Extrabett mit den Extrakissen stand. Das hat mir mein Bruder am Telefon berichtet, ich meine das mit dem Abspann, es muss also kurz vor acht gewesen sein, sagte er. Ich war sechshundert Meilen entfernt und an dem Tag zum ersten Mal nicht zu Hause, weil ich mir etwas zu essen holen wollte und im Dunkeln einkaufen gegangen war. Das Telefon hat wohl in einem leeren Haus geläutet. Als ich die Tür aufschloss, läutete es, und da war die Entfernung. Wir hatten nicht gewusst, wann, aber dann war es geschehen, und ich konnte nichts tun außer herumsitzen, bis früh durchhalten und in den Zug steigen, der an der Küste entlang durch den Schnee fuhr.
In meinem allerersten Traum war alles schneebedeckt. Vielleicht war es nicht mein erster, es gab bestimmt noch andere, Säuglinge träumen ja ständig. Es ist aber, glaube ich, der erste, an den ich mich beim Aufwachen erinnerte. Ich war noch sehr klein, zwei Jahre alt, und in dem Traum stehe ich bei uns zu Hause vor dem Vorgarten, vor der Gartentür, ich habe den neuen roten Mantel an, den meine Mutter mir gekauft hat, weil wir nach Irland fahren und ihre Mutter besuchen wollten. Das stimmt, das habe ich nicht nur geträumt. Gefahren sind wir dann aber doch nicht; zwei Tage vor unserer geplanten Abreise ist ihre Mutter gestorben, und so habe ich sie nicht mehr kennengelernt. Ich weiß noch, dass mir nicht richtig klar war, was das ist, Irland, und was das ist, Oma, und dass ich überlegte, ob die beiden Wörter dasselbe bedeuten.
In dem Traum stehe ich rot angezogen vor unserer Gartentür in tiefem Schnee und sehe mir auf beiden Seiten die Häuserreihe in unserer Straße an. Überall in der Straße lehnen sich Leute im oberen Stock zu den Fenstern hinaus, schauen zu mir herunter und winken mir lächelnd zu. Es sind
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